This ain’t Gentrification

15. November 2012

Hannover-Linden hat ein Problem. Das Hamburger Gängeviertel schon lange. Und mit den Konfliktherden in Berlins Szenebezirken sollte man eigentlich gar nicht erst anfangen. An all diesen Orten prallen regelmäßig die Interessen zweier Gruppen aufeinander: Die feiernde Partybevölkerung und die Anwohner. Eine politische Lösung dieses Konfliktes ist fern. Klar ist eigentlich nur eins: Kopflose Gesetzesverschärfungen helfen keinem!

Hannover, Limmerstraße, 6 Uhr morgens: Durch die Straßen marodieren Jugendbanden. Anwohner werden mit Glasflaschen beworfen und besoffene Hippster zertreten Autospiegel. So sieht es aus, glaubt man dem Video der Nachbarschaftsinitiative Linden-Nord. Ziel der Gruppe: Auf die Probleme der belebtesten Straße der Leinestadt hinzuweisen. Die Situation in der Partystraße ist natürlich weitaus weniger dramatisch als in dem Video dargestellt. In den letzten Jahren hat sich aber das so genannte “limmern”, die bierselige Sommer-Abendgestaltung unter dem freien Himmel des hannoverschen Szenebezirks unter Jugendlichen zum Trend entwickelt. Über die Lautstärke, alkoholisierende Pöbler und Glassplitter auf dem Boden erregen sich einige Anwohner. Zu Recht! Aber was wäre die Lösung?

Anderes Beispiel: Berlin-Prenzlauer Berg, 2012. Der Stadtteil, der wie kein anderer für die Vitalität der Berliner Künstlerszene in der Nachwendezeit steht, hat sich zu einem gutbürgerlichen Stadtteil entwickelt. Wimmelte es in den 90er Jahren noch von Ateliergemeinschaften, die mit wilden Party für Furore sorgten und illegalen Clubs, die Menschen aus der ganzen Welt in die geeinte Stadt trieben, dominieren heute junge Familien und geschäftig ausschauende Anzugträger das Bild des Stadtteils. Mit Hinblick auf die Herkunft vieler Neu-Prenzl’berger – aus den reicheren südlichen Bundesländern Deutschlands – reden die Berliner abschätzig von der “Schwabisierung” des Stadtteils. Dass diese Veränderung teilweise sogar fremdenfeindlich Züge annimmt, hat einen einfachen Grund: Clubbetreiber und Partyvolk gingen nicht freiwillig. Sie wurden durch verfehlte Wohnungs- und Kulturpolitik vertrieben.

Beispiele für diese Politik lassen sich etliche finden. Als exemplarisch kann die Odyssee des Traditionsclubs Knaack gesehen werden. Im Jahre 1952 wurde er unter dem Namen Ernst-Knaack-Jugendheim gegründet und wandelte sich nach der Wende zum Anziehungspunkt für Rockbegeisterte. Nach Beschwerden eines Altersheims in der Nähe rüstete der neue Betreiber die Veranstaltungsräume mit Schallschutz aus. Das Dilemma nahm seinen Lauf, als auf der Fläche hinter dem Gebäude ein Wohnhaus gebaut wurde. Der Bezirksrat genehmigte den Neubau, obwohl auch ein Bürogebäude denkbar gewesen wäre. Der Bauherr missachtete zudem den vorgeschriebenen Abstand zum Knaack-Gebäude. Prompt beschwerten sich die ersten, neu eingezogenen Anwohner beim Bezirksamt, welches dem Clubbetreiber nicht einhaltbar Ultimaten stellte. Silvester 2010 gab der Club schließlich auf und schloss seine Tore. Kein Einzelfall! Dem Drum’n’Base Club Icon und der Indie-Rock-Tempel Magnet erging es ähnlich. Für junge Leute hat der Prenzlauer Berg seine Anziehungskraft verloren.

So kann Fremdenfeidlichkeit auch aussehen!

So kann Fremdenfeidlichkeit auch aussehen!

Der Limmerstraße in Hannover könnte es ähnlich gehen. Zumindest wenn die Forderungen einiger Anwohner eingehalten werden. Diese würden die Straße gerne, nach dem Beispiel der Kreuzberg Admiralbrücke polizeilich räumen bzw. überwachen lassen. Sollten diese Vorgaben eingehalten werden, ist die Straße längste Zeit eine der spannendsten Ecken Hannovers gewesen. Denn hinter dem “limmern” steckt eine Menge Tradition. Seit die Straße in den 70ern zur Fußgängerzone umgewandelt wurde, flanieren tagsüber täglich Tausende über die etwa 1km lange Einkaufsmeile, am Abend werden in den Kneipen und Restaurants soziale Kontakte gepflegt und in der Nacht ziehen die Jugendlichen von den Clubs zu Club. Zwischendrin fahren die Züge der Straßenbahnlinie 10 auf der Limmerstraße auf und ab. Ein bisschen Lärm müssten die Anwohner, die in diese Ecke der Stadt ziehen, schon aushalten. Aber genau da besteht das Problem.

Kein Bahngleis wird verlegt, weil sich ein Anwohner beschwert

Städte und Straßenzüge befinden sich in einer permanenten Bewegung. Während manche Ecken aus ganz natürlichen Gründen, wie dem älter werden seiner Bevölkerung, ruhiger werden, entwickeln sich ehemalige Sozialkieze durch Zuzug von kreativen Köpfen zu Szenebezirken. Ein Beispiel ist der Berliner Stadtteil Neukölln oder das Hamburger Gängeviertel in den letzten Jahren. Keiner kann von der dort seit Jahren ansässigen Bevölkerung erwarten, die Lärm- und Schmutzbelästigung einfach so hinzunehmen. Hier gilt es vonseiten der Kreativschaffenden, der Feierwütigen und vor allem der Clubbetreiber Fingerspitzengefühl walten zu lassen. Niemand sollte einen Club in einem Haus eröffnen, ohne vorher mit den Bewohnern des Hauses gesprochen zu haben. Damit das nicht passieren kann, gibt es in Deutschland die so genannte „Freizeitlärmrichtlinie“. Es schützt die Anwohner.

Auch nicht ganz die feine Art...

Auch nicht ganz die feine Art…

Ein Gesetz das Clubbetreiber und Feierwillige vor unverhältnismäßigen Anwohnern und gewinnorientierten Investoren schütz fehlt indes. Niemand schreibt einem Hauseigentümer vor seine potenziellen Mieter vor eventuellen Lärmbelästigungen des Kiezes zu warnen. Genauso wenig besteht für Anwohner die Pflicht, sich über die Umgebung der potenziellen Neuwohnung angemessen zu informieren. Gemäß des geläufigen Sprichwortes “Wer zuerst kommt, malt zuerst” sollte auch diese Gruppen verpflichtet werden die organisch gewachsene Struktur, die Tradition eines Stadtteils zu akzeptieren. Wer dies missachtet, muss eben mit der Belästigung leben oder umziehen. Schließlich zieht auch niemand in eine Wohnung neben einem Bahngleis und klagt anschließend erfolgreich gegen die Lärmbelästigung der fahrenden Züge. Sonst hätten schon so einige Gleise verlegt werden müssen.

Die Probleme des Prenzlauer Bergs hätten durch eine derartige Regelung zumindest eingeschränkt werden können. Das Problem der Limmerstraße lässt sich indes nicht so einfach beseitigen. Die “limmernden” Jugendlichen lassen sich keinem Club, keiner Kneipe oder Bar zuordnen. Sie sitzen dort, um den Freiraum der Straße zu nutzen. Jenseits von der kommerziellen Umgebung einer Gastronomie. Diese Freiheit sollte in unserem Land möglich sein. Hier gilt es nur, an den gesunden Menschenverstand zu appellieren. Denn genauso wie Anwohner nicht bei jeder, sich unterhaltenden Jugendgruppe die Polizei rufen sollte, sollten auch feiernde und alkoholisierte Menschen in der Lage, sein auf Kritik der Anwohner zu reagieren und sich zurückzunehmen. Ein gegenseitiges aufeinander Zugehen ist die menschlichste, beste, vielleicht die einzige Lösung des Problems.